Wer mir vor ein paar Wochen erzählt hätte, wie schnell wir auf einmal mit 870 Leuten komplett mobil arbeiten können – also ohne Ausnahmen –, dem hätte ich vermutlich einen Vogel gezeigt. Klar, in die Infrastruktur investieren wir schon seit einer Weile und mit Vertrauensarbeitszeit und -ort ist das gelegentliche Arbeiten von unterwegs für viele Kolleg*innen normal. Aber komplett von heute auf morgen remote handlungs- und arbeitsfähig zu sein, das ist dann doch nochmal was anderes. Aber jetzt eben alternativlos. Eine starke Teamleistung!
In den letzten Tagen schwebte mir diese Binsenweisheit im Kopf rum: „Es wird uns erst klar, was uns wichtig ist, wenn wir es nicht mehr haben können.“ Natürlich arbeite ich gerne mit meinen Kolleg*innen zusammen. Aber wie wichtig es mir ist, sie täglich zu sehen, das wird mir jetzt erst ernsthaft bewusst. Meinem Team geht es da wie vielen anderen im Moment. Wir rücken virtuell noch näher zusammen. Unsere Kommunikation bekommt eine neue Ernsthaftigkeit. Trotz erhöhter Anspannung gehen wir rücksichtsvoller und toleranter miteinander um, können eher Schwächen zeigen.
Nur mein Hund ist auch in Woche 6 des remote working-Szenarios noch schwer irritiert, wenn wir morgens nicht Richtung Bus gehen und ins Büro fahren und er sein „Rudel“ nur im Call hören kann und dann wieder frustriert auf seinen Platz in der Küche zurückkehrt.
Schön finde ich: Das digitale Zusammenrücken endet nicht an den Unternehmensgrenzen. Auch die Beziehung zu unseren Kunden verändert sich. Die Frage „Wie geht es dir?“ ist keine Floskel, sondern wirklich ernst gemeint. Wir sitzen ja alle im selben Boot. Wir alle geben einen Einblick in unsere Wohnungen, überall turnen Kinder beim Videocall durchs Bild, jeder ist neben der Arbeit auch noch mit privaten Sorgen und Herausforderungen konfrontiert. Und niemand stört sich daran. Im Gegenteil. Ich habe den Eindruck, die Beziehungen werden persönlicher, gefestigter und wir gehen noch empathischer miteinander um. Ein Hoch auf die Menschlichkeit! Hoffentlich bleibt dieses Selbstverständnis auch nach Corona erhalten.
Gleichzeitig merke ich, wie die räumliche Distanz auch Effizienz schafft. Ich überlege remote häufiger, ob ich mit einer Person wirklich direkt sprechen muss oder ob auch eine kurze Textnachricht ausreicht. Im Büro würde ich mich wahrscheinlich eher in ein – dann doch überflüssiges – Meeting setzen. Jetzt bin ich kritischer.
Vor ein paar Wochen hatte ich schon einen anderen Artikel geschrieben und ihn dann aufgrund der Situation doch nicht gepostet. Darin schreibe ich unter anderem, dass Kulturwandel, wie etwa der Aufbau von gegenseitigem Vertrauen, seine Zeit braucht. Die neue Lage macht deutlich: die Vorzeichen ändern sich schneller als man denkt. Auch Ausnahmesituationen wie diese zeigen uns, wozu wir fähig sind. Jetzt müssen wir uns wohl oder übel vertrauen.
Und das funktioniert auch. Das Gemeinwohl scheint für alle Priorität zu haben. Auf einmal wird es weniger wichtig, sich selbst in den Vordergrund zu drängen. Ein Call mit 30-40 Leuten war vor Corona eher ein abschreckendes Szenario, heute funktioniert das ohne Probleme. Und meine Kolleg*innen berichten: Selbst mit den traditionelleren Kunden, bei denen Mobile Office, agiles Arbeiten und Co. bisher wenig verbreitet waren, machen sie gerade in genau diesen Feldern gemeinsam neue, positive Erfahrungen.
Eine spezielle neue Herausforderung in diesen Tagen: Wie gestalten wir das Onboarding für die neuen Kolleg*innen, wenn sie nicht ins Büro kommen, von niemandem physisch begrüßt und eingearbeitet werden können? Ein erster Impuls: Im virtuellen Arbeitszimmer sitzen „die Neuen“ bereits mit den Kolleg*innen zusammen, mit denen sie sich auch zukünftig ein Büro teilen werden. So können sie sich zumindest schon einmal sehen, ab und zu Fragen stellen und sich kennenlernen. Und es zeigt sich, für alle, die Anfang April angefangen haben, der Mensch ist erstaunlich anpassungsfähig. Denn auch hier hatten wir bisher keine größeren Schwierigkeiten. Es ist vielmehr so, dass es fast zu etwas Besonderem und damit Gutem wird.
Ich habe bei all diesen Herausforderungen den Eindruck, es gibt ein stilles Commitment, dass wir wirklich notwendige Dinge ohne große Befindlichkeiten jetzt einfach möglich machen müssen. Andersherum bestätigt mich das in meiner Annahme, dass Prozesse und Strukturen nur dann funktionieren, wenn man sie auch wirklich braucht. Wenn wir also künftig in unserem Arbeitsalltag feststellen, dass etwas nicht so richtig ans Laufen kommt, sollten wir es vermutlich viel früher hinterfragen. Bestimmt ist das ein gutes Learning, um auch nach der Krise den Fokus auf die wesentlichen Dinge zu richten.
Auch wenn wir als Agenturgruppe sowieso schon eng zusammenarbeiten, bin ich begeistert, wie die Kolleg*innen das „Wir rücken zusammen“ aktuell noch intensiver leben, über Marken- und Standortgrenzen hinweg. So kitschig das Label „Familie“ im Unternehmenskontext klingen mag, es stimmt. Wenn 870 Kolleg*innen ihre Kreativität im Corona-Crowdsourcing via Teams zusammenschmeißen, um unsere Kunden jetzt besonders gut zu beraten, ist das echt großartig. Quasi über Nacht entstehen neue Kollaborationen, unsere Beratungen schließen sich als Krisen-Taskforce für alle unsere Marken und auch deren Kunden zusammen. Neue Formate wie die Webinar-Reihe „Hintergrund” entstehen. Gemeinsam, im Sinne der Sache. Dieses Verständnis von Zusammenhalt zeichnet uns aus.
Ich bin zuversichtlich, dass uns diese Haltung jetzt besonders hilft. Dank unserer breiten Aufstellung mit unterschiedlichen Kommunikations- und Beratungsangeboten und einer sehr diversen Kundenstruktur trifft es uns sicherlich nicht so hart wie andere, aber auch uns stellt die Krise natürlich vor wirtschaftliche Herausforderungen. Den einen Standort mehr, den anderen weniger. In dieser Situation macht es einen Riesenunterschied, ob ich die Lage mit meiner Agentur alleine meistern muss. Oder ob ich Teil einer Gruppe bin und weiß, dass ich ein Back-up habe. Egal wie es läuft, ich habe Menschen und Strukturen, die mich unterstützen, die mir helfen und mit mir gemeinsam an Lösungen arbeiten.
Die Ausgangslage ist ideal: Anstatt bei anderen nach Best Practices zu fragen, schaffen wir gerade alle unsere eigenen Blaupausen, unsere eigenen Vorzeigeprojekte – für neues Arbeiten, Kollaboration, für den Umgang mit unsicheren Umständen und für so vieles mehr.
Ich hoffe sehr, dass wir das, was jetzt gut läuft, nicht wieder vergessen. Dass wir nach 3 Tagen im Büro nicht wieder in alte Muster zurückfallen. Ich hoffe, dass wir uns unserer eigenen Entwicklung als Individuum, als Team, als Unternehmen, als Gesellschaft in dieser Ausnahmezeit bewusstwerden, die guten Dinge übernehmen und weiterführen. Darüber hinaus sage ich immer, dass jede Veränderung, egal ob sie gut oder schlecht ist, immer zu einer Weiterentwicklung führt. Und Weiterentwicklung ist immer gut.
Dieser Artikel von Sina Wellschmiedt ist zuerst auf Xing erschienen.
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