von Sina Wellschmiedt
Neues Arbeiten braucht neue Führung. Aber wie wird New Leadership zur gelebten Wirklichkeit im Arbeitsalltag? Was sind die Stolpersteine in der Praxis? Und warum ist dieser Kulturwandel oft zäh wie Kaugummi? Ein paar Beobachtungen aus der Agenturwelt.
Flache Hierarchien, selbstorganisierte Teams, Enabler und Coaches statt Manager. Im Zuge von New Work wird so einiges ausprobiert, was Führung im Unternehmen verändert. Während die einen Führung weiterhin klassisch an einer Person festmachen, versuchen sich andere zum Beispiel an kollektiver oder lateraler Führung.
Bei letzterem verschwindet Führung natürlich nicht. Gerade in selbstorganisierten Teams ist sie extrem wichtig. Jedoch, wie Organisationsexperte Frédéric Laloux treffend formuliert, nicht in (künstlich geschaffenen) Machthierarchien, sondern in natürlichen, gesunden Hierarchien. Die Menschen in einem Team wissen, wer was besonders gut kann und organisieren sich entsprechend. Und die so entstehenden, flexiblen Hierarchien basieren auf Anerkennung, Einfluss und Fähigkeiten. Es sollen nicht alle gleich mächtig werden, sondern wie Laloux es ausdrückt, es sollen alle vollkommen mächtig und zum stärksten, gesündesten Ausdruck ihrer selbst werden – innerhalb der gewachsenen Organisationsstrukturen. Vorbilder für diese evolutionären Systeme bietet die Natur. Bäume, Flechten und Pilze sind zum Beispiel nicht gleich groß beziehungsweise mächtig. Doch um das Ökosystem intakt zu halten, müssen sie kooperieren und sind damit alle gleich relevant. Die unterschiedliche Bewertung hört hier also auf.
Was bedeutet es, solche Ideen in die Praxis umzusetzen? In unserer Agenturgruppe arbeiten die Kolleg*innen aktuell in verschiedenen Konstrukten.
Eine unserer Agenturen setzt zum Beispiel auf selbstorganisierte Teams mit klar definierten Rollen. Das ist vielleicht weniger konsequent als Laloux es beschreibt, bei dem Führung nur noch organisch entsteht, bedient aber das gleiche Prinzip: Jeder soll da Führung übernehmen, wo er besonders stark ist. Für viele Mitarbeitende ist das eine tiefgreifende Veränderung, und zwar sowohl für die „ursprünglichen“ Führungskräfte als auch für all diejenigen, die zum ersten Mal Führungsverantwortung übernehmen.
Hier haben wir dann beispielsweise einen klassischen Creative Director, der bisher für die operative Leitung des Business ebenso wie für die disziplinarische Leitung seines Teams und die fachliche Entwicklung seines Gewerks zuständig war. In der neuen Logik kann es sein, dass die operative Leitung je nach Projekt bei anderen Mitarbeitenden liegt. Die disziplinarische Leitung fällt in selbstorganisierten Teams in der bisherigen Form schlicht weg. Umso mehr Zeit bleibt für den erwähnten Director, sich um die fachliche und qualitative Entwicklung des Teams zu kümmern. Denn genau hier ist er die Person mit der meisten Erfahrung. Auf Projektebene ist er dafür dann vielleicht „nur“ ein einfacher Texter oder Designer. Das verlangt ein anderes Selbstverständnis und andere Fähigkeiten. Und natürlich die Bereitschaft, sich darauf einzulassen.
Das Beispiel anderer Kolleg*innen zeigt: Das alte Selbstverständnis der Teammitglieder verschwindet nicht von heute auf morgen. Wenn Verantwortung anders aufgeteilt wird, müssen sich nicht nur die bisherigen Führungskräfte umstellen. Menschen müssen neu in eine Führungsrolle hineinwachsen oder als Owner ein Thema verantworten. Am Beginn dieses Prozesses wird schnell deutlich, wie sehr alle in den bisherigen Mustern verfangen sind. Es ist eine Sache, in der Theorie zu sagen „Ich möchte gerne mehr Verantwortung haben“. Und es ist eine andere, wenn man dafür dann auch einstehen muss. „Das funktioniert hier nicht, weil unsere Geschäftsführung oder mein Teamlead das nicht mitmacht“, geht jetzt nicht mehr. Denn Verantwortung übernehmen heißt, bei sich selbst anzufangen, die Dinge selbst besser zu machen. Diese Veränderung im Mindset ist an vielen Stellen ein schmerzhafter Weg.
Ein ähnliches Modell setzen wir jetzt auch in meinem Team um: Wir überbrücken meine aktuelle Babypause ohne direkte Vertretung im Team. Das bedeutet ohne Teamleiter innerhalb des Teams und ohne Manager auf einer übergeordneten Ebene. Wir haben die Aufgaben meiner Rolle neu verteilt, jedes Teammitglied übernimmt Verantwortung für neue Bereiche. Die eine ist die Schnittstelle zum Partnerboard, ein anderer ist für unsere Urlaubsplanung zuständig und eine Dritte kümmert sich um das Thema teaminternes Feedback. Ob und wie dieses Konzept in der Praxis funktioniert hat, berichte ich dann gerne nächstes Jahr.
Grundsätzlich gilt für uns in der Agenturgruppe, dass wir großen Respekt für alle haben, die sich auf alternative Führungsmodelle einlassen und ich freue mich jedes Mal, wenn meine Kolleg*innen den Mut haben, solche Veränderungen zu starten!
Wenn ich mit anderen über diese Prozesse spreche, kommt schnell die Feststellung: „Das funktioniert aber nur, wenn die Teamstruktur generell gefestigt ist.“ Oder: „Da müssen sich die Menschen aber schon vertrauen.“ Richtig. Ohne ein gewisses Grundvertrauen im Unternehmen fehlt die gesunde Basis, nicht nur für neue Führungsmodelle.
Woher also kommt denn dann dieses notwendige Vertrauen? Gegenfrage: Warum sollte man nicht vertrauen? Im privaten Kontext tun wir das ja auch. Wem vertrauen wir? Wahrscheinlich den Menschen, die ehrlich und aufrichtig mit uns sind, die uns nichts unterstellen, uns etwas zutrauen, uns respektvoll und freundlich behandeln. Wenn ich dann einen Chef habe, der sagt „Wenn du hier nicht sitzt, arbeitest du doch nicht“, dann brauche ich mit Vertrauen natürlich gar nicht erst anfangen.
Die Haltung eines Unternehmens und damit auch das Maß an Vertrauen zwischen den Akteuren verändert sich natürlich nicht über Nacht. Deshalb halte ich es für Blödsinn, wenn Change-Beratungen für ein Culture Transformation-Projekt mit ein paar Workshops und Analysen ins Unternehmen kommen. Das funktioniert nicht. Kultur ist etwas, das wächst, das in einem organischen Prozess entstehen muss. Zum Beispiel über Veränderungen im Mindset. Insbesondere bei Führungskräften. Wie ein Spinnennetz aus vielen Faktoren. Das baut sich langsam auf. Du kannst nicht das Netz einfach einreißen und morgen ist da ein neues.
Umso wichtiger ist es, dass wir tiefgreifenden Veränderungen, wie der Etablierung neuer Führungsmodelle, Raum und Zeit geben. Dass wir akzeptieren, wenn es holprig wird, wenn Menschen in diese neue Struktur hineinwachsen müssen. Und: Angesichts der wachsenden Komplexität bleibt uns ohnehin nichts anderes übrig, als uns neuen Arbeitsmodellen und -weisen zu öffnen. Wann, wenn nicht jetzt, sollten wir es also angehen?
Spätestens die aktuelle Corona-Krise zeigt uns nun deutlich, dass vermeintlich Unmögliches auf einmal doch funktioniert. Das gilt hier insbesondere für das gegenseitige Vertrauen im Remote Working. Und das ist vielleicht die beste Blaupause, an der wir uns orientieren können, wenn es um Veränderungen geht.
Dieser Artikel von Sina Wellschmiedt ist zuerst auf Xing erschienen.
Ein aktuelles Beispiel zur Ausgestaltung von vertrauensvoller Führung innerhalb der Hirschen Group bietet das Work New-Konzept bei den Kolleg*innen von Zum goldenen Hirschen. Diese haben sich unter anderem die Abschaffung der Anwesenheitspflicht auf die Fahnen geschrieben.
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