von Sina Wellschmiedt
Im Mai 2020 bin ich mitten in der ersten Corona-Welle in die Babypause gegangen. Während dieser Zeit haben mich meine Kolleg:innen – neben ihren regulären Aufgaben – als Team vertreten. Unsere Idee war dabei Anfang 2020: Jetzt haben wir die Gelegenheit, eine Blaupause zu schaffen und herauszufinden, ob das, was wir in Sachen neuer Führung regelmäßig „vorbeten“ auch für uns selbst funktionieren kann.
Dann kam die Pandemie und hat Vieles durcheinander gewirbelt. Wir sind trotzdem bei diesem Plan der Elternzeitvertretung als „Team ohne klassischen Teamlead“ geblieben. Warum? Remote haben wir auch vorher schon viel gearbeitet. Und das Modell, die verschiedenen Verantwortungen und Rollen zu verteilen, funktioniert ja auch, wenn sich nicht alle jeden Tag face-to-face im Büro treffen. Sicherlich war es so noch herausfordernder für alle, aber von erschwerten Bedingungen wollten wir uns nicht abhalten lassen.
Wie lief diese Überbrückung ohne direkte Vertretung? Es gab keine:n Teamleiter:in innerhalb des Teams und keine:n Manager:in auf einer übergeordneten Ebene. Wir haben meine Führungsaufgaben und -rollen neu verteilt, jedes Teammitglied hat Verantwortung für neue Bereiche übernommen. Die eine war die Schnittstelle zum Gesellschafterkreis, ein anderer für unsere Urlaubsplanung zuständig und eine Dritte hat sich um das Thema teaminternes Feedback gekümmert.
Grundsätzlich waren wir überzeugt: Wenn man will, geht alles. Und das hat sich auch hier bewahrheitet. Sowohl im Team selbst als auch auf inhaltlicher Ebene ist nichts dramatisch gegen die Wand gefahren. Im Gegenteil: vieles lief richtig gut und meine Kolleg:innen haben die neuen Rollen mit ihren Kompetenzen voll ausgefüllt.
Dabei sind sie innerhalb der Organisation noch viel sichtbarer geworden als vorher. Sie haben einen wahnsinnig tollen Job gemacht, jede:r für sich als Expert:in für bestimmte Themen.
Trotzdem muss ich auch feststellen, dass wir gleichzeitig ein wenig naiv an die Sache herangegangen sind. Denn natürlich war das letzte Jahr alles andere als gewöhnlich. Durch die Coronasituation ist einfach unheimlich viel passiert.
Gerade im Bereich People & Organization sind viele akute Themen hinzugekommen, die es vorher gar nicht gab. Gleichzeitig wurden Dinge, die eigentlich gut organisiert waren und stabil liefen durch Corona ausgebremst. Zum Beispiel unsere interne Weiterbildungsplattform, die BRAVE ACADEMY: Präsenztrainings waren von heute auf morgen nicht mehr machbar. Meine Kolleg:innen mussten da schnell umswitchen und Alternativen entwickeln. Das haben sie großartig gelöst und zum Beispiel das BRAVE ACADEMY Camp als virtuellen Learningday ins Leben gerufen. All diese Dinge waren akut notwendig und richtig, haben aber Kapazitäten gebunden, die eigentlich anders verplant gewesen sind. Das war für das Team extrem herausfordernd.
Hinzu kommt: Menschen haben unterschiedliche Persönlichkeiten. Nicht jede:r kann alle Aufgaben gleich gut übernehmen. Auch wenn wir das theoretisch alle wissen, zeigt sich in der Praxis oft erst im Prozess, welche Aufgaben wem wirklich liegen. Und wer sich in welchen Situationen vielleicht doch nicht so wohl fühlt. Das klassische Trial-and-Error-Prinzip eben. Das war natürlich auch in unserem Team so. Hier hat sich an der ein oder anderen Stelle auch gezeigt, dass es Lücken gibt.
Was mir meine Kolleg:innen außerdem gespiegelt haben: Manchmal braucht es trotz aller Hierarchiefreiheit doch die eine Person, die entscheidet, ob das Team nach links oder nach rechts läuft. Oder die auch mal gegenüber den Gesellschaftern klare Ansagen macht, gerade in diesen herausfordernden Zeiten, in denen es häufiger notwendig war, auch mal schnelle und unprätentiöse Entscheidungen zu treffen, um etwas voranzubringen. Ein Learning ist, dass die dafür notwendige Kompetenz nicht immer von heute auf morgen adaptiert werden kann. Es macht einen Unterschied, wenn man die Gelegenheit hatte über Jahre, manchmal Jahrzehnte, in eine Rolle hineinzuwachsen. Das lässt sich dann auch nicht ersetzen.
Auch wenn ich mich in der Babypause wirklich rausgenommen habe und nicht ins Business eingemischt habe, war ich trotzdem regelmäßig in Kontakt mit meinem Team und ansprechbar, wenn es nötig war. Das war für uns alle wichtig.
Was man sich genau anschauen sollte: Wer kann und will wieviel Verantwortung tragen? Manche Kolleg:innen muss man eher ein bisschen davor schützen, sich zu viel aufzuladen, andere kann man auch mal ein bisschen pushen. Das ist natürlich in einer Pandemie mit all ihren Herausforderungen leichter gesagt als getan.
Vertrauen und Offenheit zwischen allen Beteiligten ist ebenfalls ein absolutes Muss. Ich hatte das Glück, dass sowohl mein Team als auch die Gesellschafter und Geschäftsführung Vertrauen hatten, dass das „Team ohne klassischen Teamlead“ funktionieren wird. Dazu hat selbstverständlich beigetragen, dass wir uns in unserer Organisation schon lange mit neuen bzw. alternativen Führungskonzepten beschäftigen und es eine große Offenheit und positive Erfahrungen damit gibt.
Ich steige gerade erst wieder ein. Doch meine Hoffnung ist, dass wir nicht einfach so in die alte Rollenverteilung zurückfallen, sondern im Einzelfall prüfen, was Sinn macht. Wir sind alle weitergekommen und können unsere individuellen Stärken zusammenbringen, um organisch weiter zu wachsen. Diese Entwicklung ist nicht einfach irgendwann abgeschlossen, sie geht immer weiter. Und dabei geht auch mal etwas kaputt, wächst anders weiter. Und das ist in Ordnung.
Für mich heißt das: Ich kann mich neu darauf fokussieren, was wirklich wichtig ist. Wo werde ich als Teamlead wirklich gebraucht? Wo kann ich als Führungskraft einen Mehrwert bieten? Welche Entscheidungen müssen wirklich von mir getroffen werden? Und wo sind es einfach nur gewohnte Strukturen und Prozesse, die man auch getrost hinter sich lassen kann?
Bei manchen Themen kann ich sicher mit meinen 20 Jahren Berufserfahrung wichtige Impulse geben. An anderer Stelle ist eine jüngere Kollegin mit einem anderen Background und Mindset viel kompetenter, um uns in die richtige Richtung zu leiten. So verteilt sich Leadership dann auch im Team.
Wenn wir es dadurch schaffen, das Tagesgeschäft wirklich gut zu organisieren, haben wir auch neue Kapazitäten für die wirklich entscheidenden Themen der Zukunft. Und so habe ich die Chance, diese Bereiche anzugehen, die unsere Organisation voranbringen und uns konkurrenzfähig machen. Denn darum geht es ja am Ende des Tages. Das Entwickeln neuer Führungs- und Organisationsformen ist ja kein Selbstzweck. Denn für wirtschaftlichen Erfolg brauchen wir richtig gute Leute. Um für die attraktiv zu sein, braucht es eine richtig gute Organisation und Kultur. Und eben gute Führung. Und bei dem Thema ist noch niemand von uns am Ende. Da entwickeln wir uns alle ständig weiter.
Dieser Artikel ist zuerst auf XING erschienen.
Ausführlicher habe ich dieses Thema mit Sonja Schaub im HINTERGRUND-Podcast besprochen:
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