Seit der Jahrtausendwende befindet sich unsere Welt in einem Modus permanenter Gereiztheit. Ob Finanzkrise, Demokratiekrise, Digitalisierungskrise, Klimakrise, Corona-Krise. Krise scheint der neue Normalzustand.
Während staatliche Institutionen mit dem Management dieser Multi-Krisen zunehmend überfordert sind, erkennen Unternehmen immer mehr Sinn darin, ihren Beitrag zur Aufrechterhaltung der Ordnung oder zur Verbesserung derselben zu leisten. Das ist weitsichtig – vor allem aber auch eigennützig: Denn jedes jetzt schon erfolgreiche Unternehmen sollte ein ureigenes Interesse an der Aufrechterhaltung oder positiven Verbesserung unserer Ordnung haben, auf deren Fundament seine Gewinne erwirtschaftet werden. Zukünftige Profitabilität braucht also zwingend Normativität. Und so operieren immer mehr Marken als regelrechte Sinnstanzen, die durch ihr Handeln im weitesten Sinne der Welt und der Gesellschaft Gutes tun (wollen).
Dabei ist die Bereitschaft zur Übernahme von mehr Verantwortung längst keine zeitgeistige Erscheinungmehr. Trotz oder gerade wegen der galoppierenden Individualisierung merken immer mehr Menschen, dass die Lösung persönlicher und gesellschaftlicher Krisen keine Aufgabe des Einzelnen ist, sondern kollektiver Anstrengung bedarf. Ob „Wir schaffen das“ oder „Wir bleiben zu Hause“ – die Krisen bringen uns dem WIRnäher. Und die Tatsache, dass dieser neue Gemeinsinn vor allem von der Generation Z gelebt und eingefordert wird, deutet darauf hin, dass dieser Gemeinsinn gekommen ist, um zu bleiben.
Der Ruf nach mehr Sinn und mehr WIR definiert die klassische Benefit Ladder neu
Damit dürften sich auch die Regeln des Marketings langfristig verändern – wenn sie das nicht schon längst getan haben. Jahrzehntelang bestand die Benefit Ladder aus drei Sprossen:
Allen drei Benefits liegt eine durch und durch egozentristische Sicht zugrunde. Im Mittel-punkt steht das profitierende ICH. Damit scheint es langfristig vorbei. Denn – wie oben beschrieben – suchen Konsumenten Sinn nicht mehr nur exklusiv für sich, sondern in der Fortentwicklung des Großen und Ganzen. Marken und Produkte werden nicht mehr nur nach ihrer individuellen Eignung, sondern auch nach ihrem kollektiven Nutzen ausgewählt. Mit dem nachhaltig gesourcten Orangensaft tut man nicht mehr nur seinem Körper etwas Gutes, sondern auch der Welt – Ist das nicht Innocent?! Und wer bei der Female Company Bio-Tampons kauft, der tut dies auch, um für eine geschlechtergerechtere Welt einzutreten.
Willkommen auf der vierten Sposse: Hallo „gesellschaftlicher Nutzen“
Der gesellschaftliche Nutzen fragt – anders als die drei anderen Stufen der Benefit Ladder – nicht nach dem Vorteil fürs ICH, sondern fürs WIR. Welchen Beitrag leistet eine Marke (und ihre Produkte) für die Allgemeinheit? Was ist der Beitrag der Marke an der Herstellung einer sinnvolleren Welt?
Gleich ob Tesla, Lynk, Oatly, Viva Con Agua oder Tomorrow Bank: Als unbestrittene Purpose Brands sind sie allein aus ihrer Gründungsgeschichte heraus einem kollektiven Zweck bzw. gesellschaftlichen Nutzen verpflichtet. Und gerade diese Fokussierung macht Purpose Brands offensichtlich überlegen gegenüber ›traditionellen‹ Marken, die vor allem das ICH mit der konventionellen Benefit Ladder bespielen. Somit eröffnen Purpose Brands allen Beteiligten gleich mehrere Chancen: Sie verschaffen dem Individuum einen Vorteil, von dem auch andere Menschen profitieren können, weil durch den Purpose die Chance besteht, notwendigen Wandel voranzutreiben. Das schafft nicht nur ein gutes Gewissen, sondern macht das Individuum im Idealfall zum Teil der Lösung, von der das Kollektiv profitiert.
Ein starker gesellschaftlicher Nutzen macht eine Purpose Brand noch nicht zur ›Love Brand‹. Selbst der beste gesellschaftliche Nutzen kann nur dann wirken, wenn Marke und Produkt auf einem starken Fundament stehen. Denn der weltverbessernde Orangensaft, der allerhand Gutes für die Welt leistet, bleibt ein Ladenhüter, wenn er nicht vor allem schmeckt und erfrischt. Und auch die nachhaltigste E-Mobility-Brand wird auf Dauer nicht zünden, wenn ihr nicht Produkte entspringen, die auf den klassischen Dimensionen von Fahrspaß, Komfort und Design performen.
Doch woran erkennt man denn nun den guten Purpose? – Fünf Charakteristika
Fazit:
Ein ernst gemeinter Purpose ist die große Chance für alle, das Spielfeld sinnvollen Wirtschaftens neu zu bestimmen. Das ist noch immer Pionierarbeit, und immer wenn es um Pioniertum geht, ist eines wichtig: Offenheit zu zeigen, aus der Komfortzone herauszutreten und mutig voranzuschreiten. Und genau daran erkennt man wahrscheinlich den guten Purpose: dass er uns zu Pionieren hin zu etwas Besserem macht.
Der Artikel ist zuerst auf meedia.de erschienen (28.02. 2022)
Hinweis zum Buch:
Der vollständige Artikel „How to Purpose?! ist im Fachbuch Brand Purpose – Wie Marken nachhaltig Wert schaffen (Andreas Baetzgen HRSG.) erschienen.
Über die Autoren:
Anja Schüling ist Leitung Strategie der Agentur Freunde des Hauses und beschäftigt sich in diesem Kontext mit Trends und Megatrends. Für sie verschmelzen Purpose und Nachhaltigkeit zu einem großen Zukunftsthema, das demnächst auch in der Unternehmens- und Markenführung nicht mehr wegzudenken ist.
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Henning Schröder ist Direktor Strategie bei Freunde des Hauses. Für den studierten Philosophen ist die Auseinandersetzung mit der Sinnfrage in jeglicher Hinsicht spannend, sowohl persönlich als auch im Marketing.
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